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Der Wert psychischer Gesundheit
Warum kluge Menschen ihr Leben durch eine kognitive Störung ruinieren, die keine Diagnoseziffer hat: der Werte-Neglect.
Dietmar Luchmann20. Oktober 2025
Eine Frau bewirbt sich um einen Therapieplatz wegen ihrer Angststörung. Sie ist Managerin in einem grossen Konzern, verdient ordentlich und schreibt in ihrer Anmeldung: "Für mich zählt Status. Ich habe ein Haus und Auto gekauft und bin so stolz auf mich. Das ist mein grösster Stolz." Beides kreditfinanziert, erläutert sie. Am Ende des Monats sei das Konto leer. Dann die Frage: Ob der Psychotherapeut, der ausschließlich Privatzahler behandelt, nicht doch eine Ausnahme machen könne. Krankenkasse. Sie habe ja kein Geld.
Man könnte diese Frau bemitleiden. Man könnte sie auch bewundern – für die Präzision, mit der sie ihr eigenes Leben sabotiert. Denn was sie da beschreibt, ist keine Geldnot. Es ist eine Demonstration dessen, was geschieht, wenn der Mensch Wert und Preis verwechselt.
Die Verwechslung
Der moderne Mensch kennt den Preis von allem und den Wert von nichts. Er leidet am "Werte-Neglect"1 des materialistischen Zeitgeistes.
Nehmen wir das Auto: 60.000 Franken. Sichtbar, glänzend, vorzeigbar. Die Nachbarn nicken anerkennend. Das Auto ist ein Gegenstand mit Preis – und dadurch, so die Logik, automatisch wertvoll.
Nehmen wir die Psyche: unsichtbar, nicht anfassbar, nicht vorzeigbar. Niemand gratuliert einem zur wiedererlangten Schlaffähigkeit. Niemand bewundert die Fähigkeit, morgens ohne Herzrasen aufzustehen. Die Psyche hat keinen Preis – und wird dadurch für wertlos gehalten.
Das ist die kognitive Katastrophe der Gegenwart: Wert wird über Sichtbarkeit definiert. Was man nicht fotografieren kann, existiert nicht. Was sich nicht zur Schau stellen lässt, zählt nicht. Was sich nicht in Franken beziffern lässt, ist Luft.
Nur dass Luft lebenswichtig ist. Man merkt es erst, wenn sie fehlt.
Das falsche Zentrum
Die materialistische Gesellschaft baut ihr Universum verkehrt herum. Sie stellt das Haus ins Zentrum, das Auto, die Karriere, den Kontostand. Die Psyche gilt als Satellit, als Anhängsel, als etwas, um das man sich kümmert, wenn alles andere erledigt ist.
Das funktioniert durchaus ein Weilchen — bis zum Zusammenbruch.
Denn tatsächlich ist es genau umgekehrt: Die Psyche ist das Zentrum. Alles andere kreist um sie. Ohne funktionierende Psyche nützt das schönste Haus nichts – es wird zum Gefängnis. Ohne stabile Psyche ist das Auto nur Blech – man kann nicht einsteigen, weil man nicht aufstehen kann. Ohne gesunden Geist ist die Karriere nur ein Hamsterrad, in dem man rennt, bis man zusammenbricht.
Man baut ein Hochhaus auf Sand und wundert sich, dass es einstürzt. Man investiert in die Fassade und vernachlässigt das Fundament. Und wenn dann alles zusammenbricht, steht man ratlos da und fragt sich, was schiefgelaufen ist.
Was schiefgelaufen ist? Die Prioritäten. Von Anfang an.
Der unsichtbare Wert
Wer also fragt, was psychische Gesundheit wert ist, stellt die falsche Frage. Die richtige lautet: Was ist sie wert, wenn sie fehlt?
Die Antwort ist simpel und brutal: alles.
Psychische Gesundheit ist nicht die Abwesenheit von Krankheit. Sie ist die Anwesenheit von Fähigkeiten, ohne die alles andere wertlos wird:
Die Fähigkeit, morgens aufzustehen. Entscheidungen zu treffen, die auf Vernunft basieren statt auf unbewusster Angst. Mit anderen Menschen zusammen zu sein, ohne innerlich zu fliehen. Sein Kind anzusehen und Freude zu empfinden statt Leere. Nachts zu schlafen statt zu grübeln. Konflikte auszutragen, ohne in verletzenden Dramen zu enden. Die Fähigkeit, „Nein" zu sagen, ohne von Schuldgefühlen zerrissen zu werden.
Wer depressiv ist, besitzt vielleicht einen Porsche – aber er kann nicht fahren, weil er nicht aus dem Bett kommt. Wer in Panik lebt, besitzt vielleicht ein Traumhaus – aber er bewohnt es nicht, er leidet darin. Wer erschöpft ist, hat vielleicht Karriere gemacht – aber er ist zu müde, um sie zu geniessen.
Der Wert psychischer Gesundheit liegt darin, dass sie die Voraussetzung für alles andere ist. Ohne sie ist alles andere wertlos. Mit ihr wird selbst das Bescheidene wertvoll.
Das ist die Kopernikanische Werte-Wende, die notwendig wäre: zu begreifen, dass man die Welt verkehrt herum betrachtet. Seit der Kindheit wurde man trainiert: Grösseres Spielzeug bedeutet mehr Wert. Mehr Besitz bedeutet mehr Glück. Eine Lüge, millionenfach wiederholt, bis sie zur Wahrheit wurde. Tatsächlich ist nicht das Ding das Zentrum, sondern der Geist, der es wahrnimmt. Nicht das Auto trägt einen durchs Leben, sondern die Psyche. Man kann in ein Haus investieren, so viel man will – wenn man psychisch zusammenbricht, besitzt man nur vier Wände und eine Hölle.
Die Rechnung für die Rechnenden
Es gibt Menschen, die nur in Zahlen denken. Für sie: die Rechnung.
Eine unbehandelte Depression kostet pro Jahr ab 25.000 Franken - mindestens. Arbeitsausfall, Behandlungskosten, Folgeerkrankungen. Ein Burn-out bedeutet durchschnittlich drei Monate Arbeitsunfähigkeit, oft mehr. Dazu kommen die unsichtbaren Kosten: verpasste Karrierechancen, gescheiterte Beziehungen, verlorene Jahre - unwiederbringlich, unbezahlbar.
Eine wirksame kognitive Psychotherapie kostet rund 2.000 bis 3.000 Franken - mit zehn Sitzungen. Angststörungen und Panikattacken sind kognitiv perfekt zu überwinden. Wer stattdessen eine Psychotherapie, die länger als zehn Stunden dauert, oder Medikamente akzeptiert, lässt sich falsch behandeln. Die Erfolgsquote der kognitiven Psychotherapie bei Depressionen ist ähnlich hoch, wenn Patienten bereit sind, ihr Denken zu verändern und mitarbeiten. Ökonomen beziffern die gesellschaftliche Rendite auf 1:4 – jeder investierte Franken bringt vier zurück.2
400 Prozent Gewinn durch kognitive Psychotherapie ist jedoch nur die makroökonomische Abstraktion. Nicht beziffern lässt sich die persönliche Rendite: Es ist das Gehalt für die Beförderung, die durch souveränes Auftreten möglich wurde. Es sind die Scheidungskosten, die nie anfallen, weil die Partnerschaft durch konstruktive Kommunikation gerettet wurde. Es ist der Wert der katastrophalen Fehlinvestition, die man dank gestärkter Urteilskraft nie getätigt hat.3
Und dennoch: Menschen zahlen 60.000 Franken für ein Auto, aber keine 2.000 für ihre psychische Gesundheit.
Warum? Weil das Auto sichtbar ist. Weil der Nachbar es sieht. Weil es glänzt.
Die Psyche glänzt nicht. Sie funktioniert nur. Oder eben nicht.
Noch perfider ist: Psychische Probleme folgen dem Prinzip des Zinseszinses. Ein kleiner, unverarbeiteter Konflikt wächst zur Verbitterung. Eine heute vermiedene Angst führt morgen zur Isolation. Ein ignoriertes Denkmuster verfestigt sich zur Persönlichkeitsstörung. Die Kosten steigen nicht linear, sondern exponentiell.
Frühe Intervention kostet wenig. Späte Reparatur kostet alles. Oder ist unmöglich. Und dazwischen liegt nur eine Entscheidung.
Die Rationalisierungen des Scheiterns
Natürlich gibt es Gründe. Es gibt immer Gründe.
"Ich habe keine Zeit", sagt die Person, die nachts wach liegt und grübelt. Die tagsüber funktioniert, aber nicht lebt. Die Stunden damit verbringt, ihr Leiden zu verwalten, statt eine Stunde damit zu verbringen, es zu beenden. Sie hat keine Zeit, das Leck zu reparieren – aber sie schöpft, jeden Tag, pausenlos.
"Das ist mir zu teuer", sagt die Person, die ohne Zögern 1.000 Franken für die Autowerkstatt zahlt, 2.000 für neue Möbel, 100 fürs Tanken. Aber 200 Franken für die eigene Psyche? Zu teuer. Die Wahrheit ist: Es ist nicht zu teuer. Es wird nur für wertlos gehalten.
"Ich schaffe das alleine", sagt die Person, die niemals auf die Idee käme, ihren eigenen Blinddarm zu operieren oder ihre eigenen Zähne zu ziehen. Aber das komplexeste Organ des Körpers – das Gehirn – das will sie selbst reparieren, während sie mittendrin steckt, ohne Werkzeug, ohne Anleitung, ohne Aussenperspektive. Ein Knochenbruch heilt nicht durch Ignorieren. Eine psychische Störung auch nicht. Sie wird chronisch.
All diese Argumente haben dasselbe Fundament: Angst. Angst davor, zuzugeben, dass man Hilfe braucht. Angst vor Verletzlichkeit. Angst vor der Arbeit, die nötig ist. Angst davor, dass es weh tut, wenn man sich anschaut, was nicht stimmt.
Doch hier entfaltet sich das verhängnisvollste Paradoxon: Die psychische Störung selbst verschleiert ihren eigenen Lösungsweg. Eine Depression flüstert ihrem Wirt ein: "Du bist es nicht wert, dass dir geholfen wird." Eine Angststörung befiehlt: "Vermeide die Konfrontation, das ist sicherer." Narzisstische Persönlichkeitszüge suggerieren: "Du hast kein Problem, die anderen sind das Problem."
Die Krankheit argumentiert gegen ihre eigene Behandlung. Sie macht den ersten Schritt zur schwierigsten Hürde. Das ist keine Charakterschwäche – das ist die innere Logik des Symptoms.
Diese Angst ist verständlich. Aber sie kostet das Lebensglück. Oder das Leben.
Das Systemproblem
Nun wäre es unredlich, die systemische Hürde im Psychotherapie-Paradies zu verschweigen, vor der Lösungswillige stehen.4 Der Psychotherapie-Markt ist ineffizient, intransparent und teilweise inkompetent. Ein Chatbot als Psychotherapeut bietet keine Lösung, sondern nur die bessere Therapie-Simulation.5
Die Zahl der Psychiater und Psychotherapeuten wächst. Gleichzeitig dauern Behandlungen im Schnitt mehrere Jahre. Das ist ein Skandal, denn die wissenschaftliche Forschung zeigt seit Jahrzehnten: Die meisten Angststörungen und Depressionen lassen sich durch kognitive Psychotherapie in zehn bis zwölf Sitzungen erfolgreich heilen. Selbst dann, wenn sie zuvor jahrelang chronifiziert wurden.
Warum also die Diskrepanz?
Weil das System eine stille Übereinkunft zwischen Psychotherapeuten und Patienten ermöglicht, die beiden Seiten dient – nur nicht der Gesundheit.
Psychotherapeuten profitieren von langen, unverbindlichen Behandlungen. Kein Zeitdruck, kein Erfolgsdruck, kein Risiko. Man trifft sich, man redet, man hört zu. Es ist angenehm, es ist sicher, es ist gut bezahlt. Und es gibt keine Qualitätskontrolle. Keine Instanz, die nach einem Jahr fragt: Ist der Patient jetzt gesund? Wenn nein, warum nicht?
Patienten wiederum bekommen Aufmerksamkeit, Empathie, Bestätigung. Sie können reden, klagen, erzählen. Es fühlt sich gut an. Es fühlt sich an wie Fortschritt – auch wenn sich nichts verändert. Die Lebensumstände bleiben gleich, die Denkmuster bleiben gleich, das Leiden bleibt gleich. Aber: Man tut ja etwas. Man geht zur Therapie. Das allein fühlt sich an wie Verantwortung.
In Wahrheit ist es Vermeidung. Auf beiden Seiten.
Was Psychotherapie wirklich bedeutet
Denn wirksame Psychotherapie ist anstrengend. Sie ist kein Wellness-Programm. Sie ist keine Massage für die Seele. Sie ist Arbeit des selber denkenden Menschen an sich selbst.
Ein guter Therapeut ist kein Tröster. Er ist ein Sparringspartner. Er zeigt, welche Denkmuster selbstschädigend sind. Er zeigt, wie man sie ändert. Er zeigt die Übungen. Aber umlernen und trainieren muss der Patient selbst.
Das Ziel eines ehrlichen Psychotherapeuten ist nicht, sich unentbehrlich zu machen. Sein Ziel ist, entbehrlich zu werden.
Für Patienten bedeutet das: sich konfrontieren mit dem, was wehtut. Denkmuster erkennen, die man jahrzehntelang gepflegt hat. Verhaltensweisen ändern, die bequem geworden sind. Verantwortung übernehmen für das eigene Leiden, statt es auf andere zu schieben.
Das ist unbequem. Das ist schmerzhaft. Und genau deshalb funktioniert es.
Die meisten Menschen wollen aber keine Arbeit. Sie wollen Linderung ohne Anstrengung. Sie wollen Veränderung ohne sich zu verändern. Sie wollen gesund werden, ohne etwas dafür zu tun.
Und der Markt liefert das. Jahrelang. Teuer bezahlt. Ohne Ergebnis.
Ein Fitnesstrainer, der einem vom Schwitzen abrät, versteht seinen Job nicht. Ein Psychotherapeut, der nur tröstet und nie mit der Realität konfrontiert, ebenso wenig.
Der Qualitätstest
Wie erkennt man, ob eine Psychotherapie wirksam ist?
Die Ergebnisse der Psychotherapieforschung können eindeutiger nicht sein: Kognitive Psychotherapie bei Angststörungen und Depressionen "ist im Durchschnitt hochsignifikant wirksamer als psychoanalytische Therapie und Gesprächspsychotherapie".6 Das ist keine Geschmacksfrage. Das ist die Datenlage.
Entscheidend ist die Wahl des konkreten Psychotherapeuten: Viele schreiben "kognitive Verhaltenstherapie" aufs Schild und liefern nur Gespräche.
Doch nach der ersten Sitzung sollte klar sein: Was ist das Problem – kognitiv betrachtet? Welche Denkmuster halten die Störung aufrecht? Wie wird daran gearbeitet: welche konkreten Umstrukturierungen, Konfrontationen und Übungen des Denkens? Wie lange wird es voraussichtlich dauern?
Ein fähiger Psychotherapeut kann sein Konzept verständlich erklären und die Dauer abschätzen.
Wenn diese Fragen nach der ersten Stunde nicht beantwortet sind, ist man beim falschen Psychotherapeuten. Entweder er weiss nicht, was er tut. Oder er weiss es, will aber nicht, weil Klarheit Verbindlichkeit bedeutet.
Wirksame Psychotherapie hat ein Ziel, eine Methode, einen Zeitrahmen. Sie ist kein offenes Gesprächsangebot über Jahre. Sie ist eine Intervention mit Anfang, Mitte, Ende.
Wer das nicht bietet, verkauft keine Psychotherapie. Er verkauft Gespräche. Das ist nicht dasselbe.
Die Verantwortung
Aber selbst der beste Psychotherapeut kann keine Gesundheit liefern. Er kann nur den Weg zeigen. Gehen muss man selbst.
Psychische Gesundheit ist keine Dienstleistung, die man konsumiert. Sie ist das Ergebnis eigener Arbeit: der Auseinandersetzung mit sich selbst, mit den eigenen blinden Flecken, mit den Denkmustern, die krank machen.
Und genau das macht sie so wertvoll. Psychische Gesundheit ist das Einzige, was einem niemand nehmen kann – und das einem niemand schenken kann. Es ist die einzige echte Autonomie, die man erwerben kann.
Diese Verantwortung nimmt niemand ab: weder Staat noch Krankenkasse, weder Psychotherapeut noch Partner. Die Arbeit am eigenen Denken ist die privateste aller Aufgaben – und die folgenreichste.
Man kann sich psychische Gesundheit erarbeiten. Oder ein Auto kaufen.
Die Weggabelung
Die Frau mit dem Haus und dem Auto steht an einer Weggabelung. Ob sie es weiss oder nicht – sie steht dort.
Sie kann weitermachen wie bisher. Statussymbole sammeln, Kredite bedienen, stolz sein auf Dinge. Gleichzeitig leiden, nicht schlafen, innerlich leer sein. Sie kann das jahrelang durchhalten. Viele tun das. Bis es nicht mehr geht.
Oder sie kann erkennen, dass sie die Prioritäten falsch gesetzt hat. Welchen Wert hat ein Haus, wenn man psychisch darin zerbricht? Welchen Wert hat ein Auto, wenn man zu erschöpft ist, um zu fahren? Welchen Wert hat sichtbarer Besitz, wenn man innerlich verarmt?
Sie muss nicht zur Waldgängerin werden.7 Aber sie könnte erkennen, dass sie nur 2.000 Franken und zehn Wochen Arbeit zu investieren braucht, um zu lernen, ihr Leben zu geniessen. Dass psychische Gesundheit kein Luxus ist, sondern die Grundlage für alles andere.
Die meisten Menschen treffen die erste Wahl. Nicht, weil sie es nicht besser wissen. Sondern weil das Sichtbare verführerischer ist als das Unsichtbare. Weil Konsum einfacher ist als Arbeit. Weil Selbstbetrug bequemer ist als Selbstverantwortung.
Aber die Rechnung kommt. Immer. In Form von Zusammenbruch, Depression, Panikattacken, Burn-out. Dann wird der Wert psychischer Gesundheit plötzlich sehr sichtbar – als Abgrund.
Man kann investieren, bevor man fällt. Oder man kann fallen und dann investieren. Falls man überlebt.
Die bittere Wahrheit
Die Schweiz hat die meisten Therapeuten der Welt. Und trotzdem nehmen psychische Störungen zu. Das ist kein Widerspruch. Es ist ein Symptom.
Es ist das Symptom einer Gesellschaft, die den Wert von allem an seiner Sichtbarkeit misst. Einer Gesellschaft, die lieber ins Auto investiert als in den Geist. Einer Gesellschaft, die glaubt, Gesundheit sei ein Produkt, das man kaufen kann, statt eine Leistung, die man erbringen muss.
Und es ist das Symptom von Menschen, die ihren Verstand, der ihnen geschenkt wurde, nicht benutzen. Denn es ist keine Geheimwissenschaft: Das wertvollste Fundament des Lebens ist unsichtbar - die psychische Gesundheit. Wer dieses Fundament ignoriert, baut auf Sand. Egal, wie teuer das Haus darauf ist.
Die unbequeme Wahrheit lautet: Unverarbeitete psychische Defizite und Konflikte verschwinden nicht. Sie werden projiziert. Auf den Partner, auf die Kinder, auf die Gesellschaft. Die innere Leere – jene Leere, die sich mit Haus und Auto nicht füllen lässt – wird kompensiert durch Streben nach Macht, Status, Selbsterhöhung. Die persönliche Frustration wird zum politischen Fanatismus. Das private Leiden wird zur öffentlichen Dysfunktion.
Den Preis für verweigerte Selbstverantwortung zahlt nicht nur der Einzelne – ihn zahlt die Gesellschaft als Ganzes.
Man könnte klüger sein. Man müsste nur selber denken wollen.
Quellen
1 Neglect (lat. neglegere - nicht wissen, vernachlässigen) wird in der Neurologie ein durch Hirnschädigung verursachter Wahrnehmungsverlust für eine Körperhälfte oder einen Teil des Umfeldes genannt, der häufig mit fehlendem Krankheitsbewusstsein einhergeht. Meine Wortschöpfung "Werte-Neglect" bezeichnet den Verlust des Geistigen als spirituelle Sinngebung unseres Daseins, wozu auch das Bewusstsein gehört, dass Wohlstand und Überleben zum grösseren Teil produktiven und reproduktiven Tätigkeiten zu verdanken sind, die unentgeltlich im Rahmen der Familie und des sozialen Umfeldes geleistet werden.
2 Schuler, D., Tuch, A., Buscher, N. & Camenzind, P.: Psychische Gesundheit in der Schweiz. Monitoring 2016 (Obsan Bericht 72). Neuchâtel: Schweizerisches Gesundheitsobservatorium, 2016, S. 14. https://www.obsan.admin.ch/de/publikationen/2016-psychische-gesundheit-der-schweiz
3 Luchmann, D.: "400 Prozent Gewinn durch kognitive Psychotherapie — ist das ein Scherz, Herr Doktor?" 12.07.2025. https://luchmann.com/psychotherapie/400-prozent-gewinn-durch-kognitive-psychotherapie/
4 Luchmann, D.: Die Schweiz, das Psychotherapie-Paradies. 14.08.2025. https://luchmann.com/psychotherapie/psychotherapie-paradies-schweiz/
5 Luchmann, D.: Chatbot als Psychotherapeut? Der perfekte Komplize für den Wahnsinn. 10.10.2025. https://luchmann.com/psychotherapie/chatbot-als-psychotherapeut-der-perfekte-wahnsinn/
6 Grawe, K.; Donati, R.; Bernauer, F.: Psychotherapie im Wandel. Göttingen: Hogrefe Verlag, 1994, S. 670.
7 Luchmann, D.: Die Waldgängerin - Psychotherapie einer Ärztin. 16.07.2025. https://luchmann.com/psychotherapie/waldgaengerin-waldgang-psychotherapeuten-aerztin/
Publiziert am 20. Oktober 2025
