Psychotherapeut Dietmar Luchmann › Texte zur Psychotherapie › Die Waldgängerin - Psychotherapie einer Ärztin
Die Waldgängerin - Psychotherapie einer Ärztin
Eine junge Ärztin lernt, ihren eigenen moralischen Kompass über die brüchigen Strukturen der Gesellschaft zu stellen, um fünf Kinder zu haben.
Dietmar Luchmann16. Juli 2025
Ein alter Freund bat Dr. Friedrich Weihenruh als lebenserfahrenen Psychotherapeuten, seiner Nichte Flurina bei der Suche nach neuem Lebenssinn zu helfen.
Der Übertritt vom Medizinstudium in den Medizinalltag habe die junge Ärztin traumatisiert. Die Assistenzärzte würden in einem Klima der Angst und Ausbeutung körperlich und psychisch kaputt gemacht.1,2 "Statt fachärztlicher Weiterbildung erleben sie Sklavenhaltung", lautete der Kommentar des Freundes.
Dr. Weihenruh hatte sich den Nachmittag freigehalten, als die Türglocke der Praxis läutete.
"Ihr Onkel hat mir erzählt, dass Sie einen Neubeginn suchen", begrüsste Dr. Weihenruh die junge Ärztin.
"Ja", erwiderte sie, "jedes Jahr überlegen sich mehr Ärzte, den Beruf nach der Eidgenössischen Prüfung Humanmedizin gar nicht erst anzutreten. Jetzt reicht es auch mir. Ich habe die Ausbeutung satt."
"Das verstehe ich gut, Flurina", sagte Dr. Weihenruh mit einem verständnisvollen Lächeln. "Lassen Sie sich von mir zu einem Waldgang einladen? Wir können dabei nachdenken, wie Sie die Investition in sechs Jahre Ihrer Lebenszeit und 750.000 Franken Steuergeld glücklicher amortisieren können."
"Gern", stimmte sie zu. So traten Dr. Weihenruh und die junge Frau aus der Praxis und schritten zum Wald.
Der schmale Pfad, bedeckt von einem weichen Teppich aus Laub und Nadeln, führte sie rasch unter das schützende Blätterdach alter Buchen und Eichen. Das Sonnenlicht fiel in schrägen Säulen durch die Kronen und malte flirrende Muster auf den Boden.
"Ich werde Sie nicht fragen, warum Sie aufgeben", eröffnete Dr. Weihenruh das Gespräch, als sie den harzigen Duft der Föhren einatmeten, "denn ich kenne alle guten Gründe. Leider wollen diejenigen, die diese Situation zu verantworten haben, nicht die Ursachen beheben, sondern steigern ihre Torheit noch, indem sie die Aussteiger aus der ärztlichen Versklavung mit der Rückzahlung der Studienkosten erpressen wollen."
"Ja", nickte Flurina, ihre Stimme klang erleichtert, verstanden zu werden.
"Dann überlassen wir das kranke Gesundheitssystem", nickte auch Dr. Weihenruh, "das wir nicht ändern können, seinem Siechtum und blicken auf Ihre Talente für einen alternativen Lebensplan."
Er blieb kurz stehen und deutete auf eine winzige, leuchtend rote Kappe eines Fliegenpilzes, die aus dem Moos blitzte. "Schönheit findet sich oft abseits der ausgetretenen Pfade."
"Wie war Ihr Prüfungsergebnis", fragte Dr. Weihenruh, während sie weitergingen.
"Ich war im zehnten Dezil", antwortete Flurina.
"Sie waren besser als 90 Prozent aller anderen?"
"Ja, das ist richtig."
Dr. Weihenruh nickte anerkennend. "Und welchen Facharzt wollten Sie erwerben?"
"Kinderärztin."
"Dann ist vielen Kindern eine Perle der Kinderheilkunde verloren gegangen?" Dr. Weihenruh wartete, wie Flurina reagierte.
Flurina lächelte, und zum ersten Mal wirkte ihr Lächeln unbeschwert. "Nicht wirklich. Ich will auch eigene Kinder haben."
"Kinder?" Dr. Weihenruh betonte den Plural.
Flurina atmete tief ein, ihr Blick wurde weich, als sie antwortete: "Na, mindestens fünf."
Dr. Weihenruh lachte leise und herzlich. Das Geräusch schien sich mit dem Rascheln der Blätter zu vermischen.
"Fünf. Das ist kein Plan, das ist ein Statement. Eine eigene kleine Völkerwanderung. Ich bin beeindruckt."
Sie kamen an eine Lichtung, auf der junge Birken im Wind tanzten.
"Wenn Sie eine so anspruchsvolle Expedition planen, dann ist die erste Frage nicht, wohin die Reise geht, sondern wer Ihr Co-Pilot ist. Haben Sie schon ein Anforderungsprofil für den Vater dieser fünf Kinder erstellt?"
Flurina kicherte. "Ein Anforderungsprofil? Das klingt so technisch."
"Ein Projekt dieser Grössenordnung verlangt nach exzellentem Personal", erwiderte er mit einem Augenzwinkern. "Ihre Fähigkeit zur Diagnostik ist erstklassig. Wenden wir sie doch einmal auf die Männersuche an. Welche Eigenschaften müsste dieser Mann haben, damit das Projekt 'Zukunft' nicht schon beim Start scheitert?"
Sie dachte nach, während sie einen steileren Anstieg nahmen. Ihr Atem ging schneller.
"Also … er dürfte kein Karrierist sein, der abends nur noch erschöpft auf die Couch fällt. Er müsste Kinder wirklich lieben, nicht nur als Idee. Ebenso Humor – ohne den geht gar nichts. Humor ist überlebenswichtig."
Flurina blickte zu den Baumwipfeln auf und wiegte ihren Kopf. "Er müsste die Idee einer Frau, die ihr Arzt-Diplom an den Nagel hängt, um eine Familie zu gründen, nicht als Scheitern, sondern als das grösste Kompliment verstehen, das eine Frau einem Mann machen kann."
Sie hielt inne. "Und er sollte handwerklich begabt sein. Bei fünf Kindern geht immer was kaputt."
"Eine sehr präzise Diagnose", lobte Dr. Weihenruh. "Humor, Präsenz, Wertschätzung und ein Talent für Reparaturen. Das klingt nach einem seltenen Exemplar. Wo, glauben Sie, findet man einen solchen Mann? Vermutlich nicht in den Notaufnahmen der Krankenhäuser oder auf den Golfplätzen der Chefärzte."
"Sicher nicht", lachte Flurina. "Vielleicht beim Klettern? Oder in einem Verein, der alte Fachwerkhäuser restauriert? Oder bei einem Kurs für Selbstverteidigung, weil er sich für Sicherheit interessiert?"
"Sehen Sie?", sagte Dr. Weihenruh und blieb vor einer mächtigen, alten Eiche stehen, deren Rinde wie die faltige Haut eines weisen Gesichts aussah. "Sie denken bereits wie eine Waldgängerin. Sie suchen nicht dort, wo die Masse sucht, sondern dort, wo die Wahrscheinlichkeit für Qualität am höchsten ist. Sie legen einen Köder aus, der nur von der richtigen Art Wild gebissen wird. Ihre Jagdgebiete sind nicht die lauten Märkte, sondern die stillen Refugien, in denen Charakter wächst."
Dr. Weihenruh blieb stehen, sein Blick verfolgte einen grossen Vogel, der majestätisch über dem Hang kreiste. "Sehen Sie ihn dort oben?"
Flurina folgte seinem Blick und erkannte den dunklen Umriss eines Greifvogels.
"Ein junger Steinadler", sagte er leise. "Am weissen Leuchten in den Schwingen und am Schwanz erkennen Sie den Jungvogel. Er ist noch nicht eingefärbt wie die Alten, aber mit kräftigen Schwingen. Er zieht seine Kreise — wachsam, geduldig, und mit einem Blick, der das ganze Tal absucht."
Dr. Weihenruh schwieg einen Moment. "Er sucht nicht überall. Nur dort, wo sich das Warten lohnt."
Flurina lächelte, ihr Blick entspannte sich. "Wie eine Frau, die weiss, dass sie kein x-beliebiges Exemplar will. Sondern das seltene. Das, das passt."
Dr. Weihenruh nickte. "Und klug genug ist, den richtigen Köder nur dort auszulegen, wo er vom Richtigen gefunden wird."
Ein Windstoss fuhr durch die Baumkronen. Der Adler stieg höher. Sie gingen weiter, der Pfad wurde weicher.
"Gut, nehmen wir an, der passende Co-Pilot ist gefunden", fuhr der Psychotherapeut fort. "Jetzt kommt die nächste grosse Frage. Sie wollen diese fünf jungen Menschen in einer Welt aufziehen, die brüchig wird. Wie machen Sie das?"
Er schaute Flurina an. "Schaffen Sie ihnen ein Gewächshaus, um sie vor jedem Sturm zu schützen? Oder pflanzen Sie sie wie diese Eiche hier, die jedem Wetter trotzen musste, um so stark zu werden?"
Flurina blickte sich im Wald um. Sie sah junge Buchen, die im Schutz der Älteren rank und schmal in die Höhe schossen, aber auch knorrige Kiefern, die allein auf einem Felsvorsprung standen.
"Weder noch", sagte sie langsam, als sich die Erkenntnis formte. "Ein Gewächshaus erzeugt schwache Pflanzen, die beim ersten Frost eingehen. Aber ein Baum, der nur Stürme kennt, wird vielleicht hart und verbittert. Man braucht beides. Man braucht ein Zuhause, das so sicher ist wie ein Gewächshaus, in dem sie bedingungslose Liebe, Wärme und Nahrung für die Seele bekommen."
Sie breitete ihre Arme aus. "Aber von dort aus muss man sie immer wieder nach draussen schicken – in den Wind. Man lässt sie auf Bäume klettern und mit aufgeschlagenen Knien nach Hause kommen. Man lässt sie streiten und sich selbst vertragen. Man gibt ihnen Wurzeln und Flügel."
"Wunderbar formuliert", sagte Dr. Weihenruh. "Und jetzt kommt die entscheidende Frage, Flurina. Die Frage nach den 750.000 Franken und Ihren sechs Jahren Studium. Sind die verloren?"
"Nein", sagte sie sofort und mit einer neuen Festigkeit in der Stimme. "Nein, überhaupt nicht. Wer, wenn nicht eine ausgebildete Ärztin, könnte besser die Gesundheitsministerin ihrer eigenen Familie sein?"
Sie hielt kurz inne. "Ich kann echtes Fieber von einer Lappalie unterscheiden. Ich erkenne eine Lungenentzündung am Husten, bevor andere überhaupt zum Arzt gehen würden. Ich kann die psychische Gesundheit meiner Kinder viel besser einschätzen. Mein Wissen ist keine verlorene Investition. Es ist die beste Lebensversicherung, die ich meiner Familie geben kann. Es ist eine Superkraft."
"Eine Superkraft", wiederholte Dr. Weihenruh leise und lächelte zufrieden. "Sie tauschen also nicht eine Karriere gegen nichts. Sie tauschen eine fremdbestimmte Karriere als Lohnsklavin gegen die selbstbestimmte Berufung als Gründerin, CEO, Gesundheitsministerin und Sicherheitschefin eines kleinen, widerstandsfähigen Stammes."
Ein Gefühl von unbändiger Freude durchströmte Flurina. Die Last, die sie seit Monaten trug, war wie durch Zauberhand von ihr genommen. Sie war keine Versagerin. Sie war eine Pionierin. Eine Waldgängerin.
So folgten sie den mäandernden Pfaden und Wegen des Waldes, während sie im Gespräch die möglichen Wege für Flurinas Zukunft erkundeten.
Der Wunsch, eines Tages fünf Kindern ein glückliches Zuhause schenken zu können, verlangte eine tragfähigere Lebens- und Berufsplanung als die Illusion, in einem kranken System als Ärztin Lebenssinn zu finden.
Als sie wieder zur Praxis zurückgekommen waren, von der aus sie die Wanderung zu ihrem Selbst begann, schaute eine glückliche Flurina zu Dr. Weihenruh.
"Sie haben die richtigen Fragen gestellt, die mich zu den Antworten führten, die ich suchte. Ich danke Ihnen", und sie umarmte Dr. Weihenruh, der sich seine Rührung nicht anmerken liess.
Auf ihre Frage, wie viel sie für diesen Waldgang zu zahlen habe, erwiderte er: "Nichts. Wirklich, gar nichts. Bewahren Sie das Geld und nehmen es als meine bescheidene Investition in die Zukunft der Schweiz."
Und mit einem Lächeln fügte er hinzu: "Bezahlen Sie davon die ersten Strampler."
Quellen
1 Peterhans, A., Rau, S.: «Wir machten uns kaputt»: Sie waren Ärzte und stiegen aus. Tagesanzeiger, 27.01.2023. https://www.tagesanzeiger.ch/wir-machten-uns-kaputt-sie-waren-aerzte-und-stiegen-aus-107451773585
2 Amsler, J.: Ärzte sprechen von «Ausbeutung» und «schädlichem Kurs». Basler Zeitung, 09.05.2023. https://www.bazonline.ch/aerzte-sprechen-von-ausbeutung-und-schaedlichem-kurs-632988695101
Publiziert am 16. Juli 2025
